Karl Veitschegger (November 2003)

 

Gott – grausam und gewalttätig?

Hilfe zum Verständnis von Bibelstellen, die Gott grausam und gewalttätig erscheinen lassen


 

Schockiert

Schon mancher Bibelleser war schockiert: Da befiehlt Gott im Alten Testament den Israeliten, Angriffskriege zu führen, andersgläubige Menschen zu töten, ja ganze Völker auszurotten (Deuteronomium 20,16f). Über die Eroberung Jerichos durch Josua und seine Krieger steht geschrieben: „Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang: Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel.“ (Josua 6, 21) Diese grausame Massenvernichtung soll Gottes Wille sein?

Historiker sagen uns, dass viele Völker der Antike den Krieg als etwas Heiliges betrachteten. Alles, was dem Schutz und dem Aufstieg des eigenen Volkes diente, wurde unkritisch für gut und gottgewollt gehalten. Das Leid der Gegner blieb dabei oft völlig ausgeblendet. Ohne Skrupel tötete man die besiegten Feinde, gleichsam als Opfergabe für die siegbringenden Götter. Assyrer, Moabiter, Kelten und Germanen haben so gehandelt. (Auch in vielen indianischen Kulturen wurde diese Praxis exzessiv geübt.) Und die Israeliten dachten in bestimmten Perioden ihrer Geschichte offensichtlich nicht anders.

 

Archäologie entlastet

Archäologische Grabungen brachten allerdings zu Tage, dass die in der Bibel erzählten grausamen Kriegszüge des Josua historisch gar nicht in der geschilderten Weise geschehen sein konnten. Jericho, von dem oben die Rede ist, war zur Zeit Josuas nicht besiedelt. Kanaan dürfte von den Israeliten ziemlich friedlich „eingenommen“ worden sein. Viele Erzählungen über brutale Handlungen sind also nicht als Tatsachenberichte hinzunehmen (vgl. Israel Finkelstein u. Neil A. Silberman, Keine Posaunen vor Jericho, München 2002). Lügt also die Bibel? Will sie durch blutrünstige Sagen aus alter Zeit den Menschen bewusst „Gottesfurcht" einjagen?

 

Sprache der Gewalt

Um das Buch Josua und andere brutale Texte der Bibel richtig verstehen zu können, muss man wissen, was hinter dieser altorientalischen Gewalt-Rhetorik steckt. Viele Völker der Antike versuchen ihr Selbstbewusstsein dadurch zu stärken, dass sie mit blutigen Großtaten ihrer Helden prahlen. So wird z. B. der ägyptische Herrscher Tutanchamun als Feinde tötender Krieger auf dem Streitwagen dargestellt, obwohl er – so sagen Ägyptologen – persönlich niemals auf einem Schlachtfeld gekämpft hat. Solches Sich-Brüsten mit Gewalt signalisiert Stärke, Chance im Überlebenskampf gegen bedrohliche Feinde, Hoffnung auf Zukunft. Es will die Angst nehmen. Auch die Schriftsteller der Bibel wollen unter Zuhilfenahme solcher „Brutalgeschichten“ dem Volk Israel in kritischer Zeit eine Hoffnungs-Botschaft übermitteln: „Gott ist viel stärker als die kriegerischen Nachbarvölker, die euch bedrohen! Er, der Herr über Leben und Tod, ist euer Helfer!“ Ähnliches geschieht, wenn heute ein Schulanfänger seinen Raufgegnern zuruft: „Wartet nur, mir hilft mein großer Bruder, der kann fünf Viertklässler auf einmal k. o. schlagen!“ Auch hier geht es nicht um sachliche Information über Stärke und Charakter des Bruders, sondern um Mobilisierung der Hoffnung auf Rettung. Aus dieser Perspektive müssen viele biblische Texte gelesen werden.

 

Offenbarung wird immer klarer

Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist im Lauf von vielen Jahrhunderten entstanden. Die Schriftsteller der Bibel waren Menschen ihrer Zeit und bedienten sich – mehr oder weniger kritisch – der Ausdrucksweisen ihrer Zeit, um ihre Erfahrungen mit Gott weiterzugeben. Gott hat diesen menschlichen Weg zugelassen, ja gewählt, um sich im Lauf der Geschichte immer deutlicher zu offenbaren. Das Volk Israel durfte erkennen: Gott ist groß, geheimnisvoll, Ehrfurcht gebietend, aber zugleich „gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Huld, ... gütig zu allen, sein Erbarmen waltet über all seinen Werken.“ (Psalm 145,8-9). Ja, er schenkt, wie das Buch Jona lehrt, sein Erbarmen sogar der „Stadt Ninive“, also auch den Erzfeinden Israels. „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen“, liest man im Buch der Weisheit, einer Spätschrift des Alten Testamentes (Weisheit 11,24).

 

Von Jesus lernen

Am deutlichsten – so dürfen Christen und Christinnen glauben – hat Gott sich in Jesus von Nazaret ausgedrückt. Dieser ist das menschgewordene Wort Gottes (vgl. Johannes 1). Er hat uns die Feindesliebe gelehrt (vgl. Matthäus 5,44-48) und alle glücklich gepriesen, die barmherzig sind und keine Gewalt anwenden (vgl. Matthäus 5,5-7). Am Kreuz sterbend hat Jesus sogar für seine Feinde gebetet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23,34) Im Licht dieser Liebe, die nicht nur die eigene Not, sondern auch die Situation des Feindes verstehen will, dürfen wir Christen und Christinnen die ganze Bibel lesen und interpretieren, auch jene Stellen, die sich noch einer „inhumanen“ Sprache bedienen.

„Lernt von mir, denn ich bin gütig ...!“ (Matthäus 11,29) – Dieser Einladung Jesu wurde in der Geschichte des Christentums oft nicht Folge geleistet. Dennoch bleibt sie aufrecht. Sie ergeht an uns alle.

 

Karl Veitschegger (November 2003)

 

 

Außerbiblisches Beispiel für „Untergangsweihe“

Mescha, der König der Moabiter (um 850 v. Chr.) weihte seinem Gott Kemosch die besiegten Israeliten: „Und Kemosch sprach zu mir: Geh, nimm Nebo (im Kampf) gegen Israel. Da zog ich bei Nacht los und kämpfte gegen es von Tagesanbruch bis Mittag. Und ich nahm es ein und tötete alles: 7000 Männer, Klienten, Frauen, [Klien]tinnen und Sklavinnen, denn ich hatte es dem Aschtar-Kemosch geweiht. Und ich nahm von dort die [Gerät]e (?) Jahwes und schleppte sie vor Kemosch." (Aus dem Text der Mescha-Stele, gefunden 1868 in Dibon)

 

Zitate zum Weiterdenken:

„Wer den biblischen Text so behandelt, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre, sieht nicht, dass das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind." (Benedikt XVI., Verbum Domini 2010)

 

„Der Bezugspunkt der gesamten Heilsgeschichte ist Jesus Christus. In ihm ist die Geschichte Gottes mit den Menschen endgültig »geglückt«. Auf ihn hin und von ihm her müssen alle Schriftaussagen kritisch interpretiert werden." (Kardinal Walter Kasper)

 

„Wir brauchen Gott. Welchen Gott? [...] Seine »Rache« ist das Kreuz: das Nein zur Gewalt, die Liebe bis ans Ende. Diesen Gott brauchen wir." (Benedikt XVI. bei der Messe in München am 10.9.2006)

 

14 Thesen als Verständnishilfe für Bibeltexte, die Gott grausam erscheinen lassen (2005)

Artikel Bibel: Gotteswort oder Menschenwort?

Kurzeinführung in zwei schwierige Osternachtlesungen (Abraham, Exodus)

 

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