Karl Veitschegger (1993)

 

Notizen zum Vaterunser (Mt 6, 9-13 / Lk 11,2-4)

Theologische Anmerkungen zum Gebet des Herrn. Skizze für einen Vortrag


 

Vater unser

Eine für die Zeit Jesu unüblich knappe Anrede Gottes! Manche haben heute Probleme mit der männlichen Anrede. „Vater" heißt aber hier einfach: Gott ist gut zu uns!, nicht: Gott ist ein Mann.

„Ki el anochi we lo isch - Gott bin ich, nicht ein Mann!“ (Hosea 11,4 wörtlich übersetzt). Mann und Frau sind „Abbild Gottes“ (Genesis 1,27). Gott ist väterlich und mütterlich! „Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch.“ (Jesaja 66,13. Vgl. auch Jesaja 49,15.) „Genauso wirklich wie Gott unser Vater ist, ist er auch unsere Mutter.“ (Mystikerin Juliane v. Norwich, + um 1440). „Gott ist unser Vater und unsere Mutter.“ (Papst Johannes Paul I.)

 

Warum nennen wir, wie auch Jesus es getan hat, Gott dennoch meist nur „Vater“?

Hier spielt vermutlich auch die natürliche Symbolik eine große Rolle: Die Schwangerschaft der Frau und die Geburt aus der Mutter sind äußerlich sichtbar, leicht kontrollierbar und verstehbar. Ganz anders die Zeugung durch den Vater. Sie ist für ein Kind eher „abstrakt". Ist „Vater" daher natürliches Symbol für Transzendenz? Gott ist uns zwar nahe, aber unsere Herkunft von ihm, unsere Zugehörigkeit zu ihm, ist nicht einfach kontrollierbar. Direkt erfahrbar ist für uns hingegen, dass wir von der Erde leben und Nahrung erhalten. Auf die Erde wird daher auch in der Bibel das Mutter-Symbol angewandt. (Sirach 40,1.11). In einem Kirchenlied heißt es: „Ehre sei Gott in der Höhe!, stammeln auch wir, die die Erde gebar."

 

Jesus nennt Gott Abba“ und verwendet damit ein aramäisches Kosewort (Papa, lieber Vater). Markus 14,36 überliefert uns dieses Wort im Munde Jesu. Vor Jesus hat vermutlich niemand Gott so vertrauensvoll angeredet.

►Der Abba ist besser als irdische Väter (Matthäus 7,7-11). Keine Projektion unserer schlechten ►Vater-Erfahrungen auf Gott! (Übrigens: Es gibt auch schlechte Mutter-Erfahrungen!)

►Die Größe seiner Liebe ist für viele skandalös (Lukas 15,11-32).

►Der Abba ist „mütterlich“-barmherzig. Das hebräische „rachamim" (Barmherzigkeit) kommt von „racham" (Mutterschoß). Barmherzig sein heißt: wie eine Mutter sein, mütterlich sein.

►Auch wir dürfen wie Jesus zu Gott „Abba“ sagen (Galater 4,6. Römer 8,15).

 

Es ist furchtbar, wenn Menschen nicht mehr glauben können, dass Gott ein guter Vater ist. Jesus konnte auch noch in Getsemani, als ihn schreckliche Angst vor seiner Hinrichtung befiel, Gott zärtlich mit „Abba“ anreden (Markus 14,34-36). Er will mit diesem Gottvertrauen nicht allein bleiben. Er ist „der Erste unter vielen Geschwistern“ (Römer 8,29). Wenn wir „Vater unser“ sagen, sind wir Geschwister Jesu, aber auch untereinander Brüder und Schwestern.

 

Im Himmel

Der Himmel ist im Altertum Symbol für das Unerreichbare und Unzugängliche (vgl. Erzählung vom Turmbau zu Babel in Genesis 11,1-9). Gott ist uns nahe, bleibt aber zugleich der Transzendente, unendlich erhaben und unbegreiflich. „Keine plumpe Duzbruderschaft mit Gott!“ (Pater Leppich). Vorsicht vor selbst gebastelten Gottesbildern. Denn: „Niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will.“ (Matthäus 11,27)

 

Geheiligt werde dein Name

Gott ist keine anonyme Macht, sondern ein DU – mit Namen (ansprechbar). Sein Name ist JHWH („Jahwe“ ausgesprochen, aus Ehrfurcht meist nur mit „Herr" übersetzt). Er bedeutet: „Ich bin, der ich bin!“ oder „Ich bin da!“ (Exodus 3,13)

„Wenn ich euch aus den Völkern (wohin ihr verbannt seid) herausführe ... werde ich mich vor den Augen der Völker an euch als heilig erweisen. Ihr sollt erkennen, dass ich JHWH bin ... Ihr werdet erkennen, dass ich JHWH bin, wenn ich um meines Namens willen so an euch handle ...“ (Ezechiel 20,41-44, vgl. auch 36,23-28) Gott selbst macht seinem Namen Ehre. Indem er sein Volk befreit, macht er deutlich, dass er „da ist“ (JHWH). Entweiht wird sein Name, wenn Menschen spotten, Gott sei hilflos und kraftlos.

In Jesus von Nazaret erfüllt sich, was JHWH bedeutet: Gott ist da. (Vgl. Johannes 17,26). „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit.“ (Kolosser 2,9). Der Name „Jesus“ (Jeschua, Jeschu) bedeutet: JHWH rettet, erlöst!

 

Dein Reich komme

„malkut" (hebräisch)/„basileia" (griechisch) = Königtum, Herrschaft, Reich.

Israels Hoffnung: Gott wird sich gegen alle (politischen, aber auch „metaphysischen“) Mächte der Unterdrückung durchsetzen. Er hat das letzte Wort. – „Dein Gott ist König!" (Jesaja 52,7)

Jesus versteht sich als Künder und Bringer des „Reiches Gottes“. Es beginnt schon jetzt (Markus 1,14-15. Matthäus 12,28). Noch ist es klein wie ein Senfkorn, aber es wächst und wird groß werden (Markus 4,30-31). Der „kommende Menschensohn“ ist Symbol der Hoffnung: Trotz aller Bestialitäten wird am Ende wahre Menschlichkeit gelingen (vgl. Daniel 7,1-28). Gott hat das letzte Wort; es trägt das Gesicht des Menschensohnes, ist ein menschliches Wort. Es richtet und heilt. Schließlich wird „Gott alles in allem" sein (

1 Korinther 15,23-28).

 

Dein Wille geschehe ...

Was will Gott? - Gott „will, dass alle Menschen gerettet werden" (1 Timotheus 2,4). Alle Menschen sollen ihr Heil finden. Seine Gebote sind Wegweiser zum „Glück“ (Jesaja 48,18).

Jesus hat den Willen Gottes verkündet (vgl. Bergpredigt – Matthäus 5,1-7,29) und selbst gelebt (Johannes 6,38-40). „Wer den Willen Gottes tut, ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ (Markus 4,35) Hierher gehört auch die Religionskritik Jesu: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters tut.“ (Matthäus 7,21)

 

Unser tägliches Brot gib uns heute„Euer Vater weiß, was ihr braucht.“ (Matthäus 6,8). Wir dürfen mit den Alltagssorgen zu Gott kommen. Gottvertrauen wirkt oft Wunder. Das bezeugen (auch) viele Heiligen-Biografien (Klara v. Assisi., Pfarrer v. Ars usw.)

Wir beten: „unser“ Brot!, nicht: „mein“ Brot! Was Gott uns gibt, müssen wir gerecht miteinander teilen. „Gebt ihr ihnen zu essen ...!“ (Markus 6,32-44) – Wo wir teilen, ereignet sich „Brotvermehrung“. Wir sind Geschwister und sollen unser Brot, unsere Güter, unsere Lebenschancen miteinander teilen. So werden wir „Brot“ füreinander – in der Nachfolge dessen, der sagen kann: „Ich bin das Brot des Lebens ..." (Johannes 6,35)

 

Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben ...

Wir leben in einer Zeit des Anklagens. Schuld geben ist leichter als Schuld ver-geben. Die Vergebung Gottes kann in uns aber nur zum Ziel kommen, wenn auch wir einander „von Herzen“ (Matthäus 18,35 – Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht) vergeben. Jesus hat die Feindesliebe nicht nur gelehrt (Matthäus 5,43-44), sondern selbst bis zum Tod am Kreuz vorgelebt: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23,34) Gottes Vergebung ist ein schöpferischer Akt. Er vermag aus dem Schlechten, das wir getan haben, sogar Gutes wachsen lassen: „Gott kann machen, dass das Falsche zum noch Besseren wird, als das Richtige gewesen wäre.“ (Sören Kierkegaard)

 

Und führe uns nicht in Versuchung

Das biblische Wort für „Versuchung“ ist schillernd: Erprobung, Prüfung, Herausforderung, aber auch: Falle, Verführung …

Jakobus 1,13 stellt klar: Gott selbst versucht niemanden zum Bösen.

Von Anfang an gibt es im Menschen die Sehnsucht nach Gott, aber auch die Versuchung, Gott zu misstrauen, ihn nicht als Abba anzunehmen (vgl. Erzählung vom Sündenfall in Genesis 3).

Es gibt verschiedene Übersetzungen/Übertragungen dieser schwer verständlichen Vaterunser-Bitte:

„Lass uns nicht in Versuchung geraten!“ (Katechismus der katholischen Kirche)

„Lass uns nicht in die Gefahr kommen, dir untreu zu werden!" (Gute Nachricht)

„Führe uns womöglich nicht in die Zerreißprobe!“ (Karl Herbst)

„Pass auf uns auf, damit wir nicht irgendwelchen fiesen Gedanken nachgeben und dir auch so untreu werden.“ (Die Volxbibel)

„Führe uns nicht zum Verrat an dir.“ (Bibel in gerechter Sprache)

„Überfordere uns nicht in Situationen der Anfechtung, sondern hilf uns, dass wir uns darin bewähren können.“ (Jan-Heiner Tück)

 

Jesus: „Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet!“ (Markus 14,38): Wacht! = Träumt nicht, schlaft nicht, seid realistisch! Betet! = Vertraut Gott, setzt auf ihn in allen Situationen!

 

Sondern erlöse uns von dem Bösen

In dieser Bitte tragen wir das gesamte Elend der Welt vor Gott – durch den, der von Gott gekommen ist und hautnah unser Schicksal geteilt hat: Jesus. „Alle unsere Bitten sind ein für alle Mal in seinen Schrei am Kreuz hineingenommen und vom Vater in seiner Auferstehung erhört worden.“ (Katechismus der katholischen Kirche 2741).

 

Karl Veitschegger (1993)

 

 

Vater unser in der Muttersprache Jesus (aramäisch)

 

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