Karl Veitschegger (1996)

 

Sinnsuche außerhalb der Kirche

Fastenpredigt in den Pfarren Hartberg und St. Ruprecht a. R. (Fastenzeit 1996)


„Wer sucht, der findet. Wer anklopft, dem wird geöffnet" (Lk 11,9-13)

 

Liebe Weggefährten und Weggefährtinnen!

 

Ich darf Sie so nennen. Wir haben gemeinsam den Kreuzweg gebetet, wir sind gemeinsam unterwegs zum Osterfest. Und wir sind – einfach dadurch, dass wir Menschen sind – gemeinsam unterwegs auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

"Wer sucht, der findet. Wer anklopft, dem wird geöffnet."

Als Referent für Katholische Glaubensinformation habe ich viel mit Menschen zu tun, die mit der Kirche Probleme haben oder gar aus ihr ausgetreten sind. Deshalb wurde ich eingeladen, zum Thema „Sinnsuche außerhalb der Kirche“ zu sprechen. Das Thema kann zweifach gesehen werden: groß und weltweit, aber auch sehr nahe liegend.

 

Zuerst die weltweite Sicht: Wenn ich recht informiert bin, leben bald 6 Milliarden Menschen auf unserer Erde. Davon gehören 1,8 Milliarden einer christlichen Kirche an. Das bedeutet, über 4 Milliarden Menschen „müssen" den Sinn ihres Lebens außerhalb der Kirche suchen – im Judentum, im Islam, als Hindus, als Buddhisten und Buddhistinnen usw. Gilt auch für sie das Wort Jesu: Wer sucht, der findet. Wer anklopft, dem wird geöffnet“?

In der 2000-jährigen Geschichte der Kirche haben Christen und Christinnen verschieden darauf geantwortet. Erst vor 30 Jahren hat sich die katholische Kirche (meines Wissens als erste christliche Kirche) auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil offiziell zur Erkenntnis durchgerungen: Jeder Mensch, der die Wahrheit aufrichtig sucht und nach bestem Wissen und Gewissen lebt, wird von Gott das ewige Heil bekommen.

 

Gott ist den Menschen auch in anderen Religionen nahe und hilft ihnen, dass sie sinnvoll leben und sterben können. Aber brauchen wir dann noch eine christliche Mission? – Oh ja! Die Religionen – so sehe ich das - brauchen einander. Jede hat ihren Sinn von Gott. Deshalb sollen sie einander auch nicht bekämpfen, sondern einander geistig beschenken.

Was ist dabei die Gabe des Christentums? – Wir wollen das Kostbarste, das wir von Gott geschenkt bekommen haben, auch den anderen als Geschenk anbieten: Jesus Christus – sein Leben und seine Botschaft. Aber wir wollen auch darauf achten, was andere Religionen uns schenken können: das Judentum eine tiefere Einsicht in die hebräische Bibel und damit in das Judesein Jesu, der Islam die Ehrfurcht vor der Größe und Einzigkeit Gottes, die asiatischen Religionen die Ehrfurcht vor allen Lebewesen usw. In allen Religionen finden sich Geschenke, die Gott für die Menschheit bereithält. „Wer sucht, der findet. Wer anklopft, dem wird geöffnet.“

 

Aber kann die Suche nach dem Sinn des Lebens nicht auch gefährlich werden? Gibt es z. B. nicht auch „Sekten", die alles andere als harmlos sind? Mit dieser Frage rückt uns das Thema „Sinnsuche außerhalb der Kirche" schon näher an den Leib. Jeder und jede von uns kennt vermutlich jemanden, der „zu einer Sekte gegangen" ist. Ich habe in den letzten sieben Jahren im Auftrag unseres Bischofs x-tausend Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, nach ihren Austrittsgründen befragt. Wenn meine Untersuchungen stimmen, schließen sich in der Steiermark jährlich rund 100 bis 150 Menschen einer so genannten „Sekte" an. Diese Zahl ist klein und hoch zugleich. Klein im Verhältnis zur Gesamtzahl der Ausgetretenen, aber groß, wenn man bedenkt, dass jene Menschen nicht aus der Kirche ausgetreten sind, weil sie von Religion nichts halten, sondern – im Gegenteil! – besonders religiös sein wollen. Das darf uns besonders weh tun!

Was treibt Menschen in solche religiösen Sondergemeinschaften?

 

Einige Gründe liegen auf der Hand:

Die Sehnsucht nach sicheren und fertigen Antworten, denn die Welt ist kompliziert und unübersichtlich geworden.

Die Sehnsucht nach Geborgenheit und Gemeinschaft, denn die Welt ist groß und unheimlich geworden.

Die Sehnsucht nach besonderen Erlebnissen und intensiven Gefühlen, denn in der Welt ist es kalt geworden (in den Familien, der Kirche, den Gottesdiensten).

Die Sehnsucht, etwas Besonderes zu sein und nicht in der Masse unterzugehen, denn in der Welt sind viele nur eine Nummer, eine Arbeitskraft, ein Kostenfaktor.

 

Sind diese Sehnsüchte, diese Wünsche nicht ernst zu nehmen? – Ich denke, ja. Stehen wir als Kirche diesen Wünschen hilflos gegenüber? – Ich denke, nein. Geborgenheit, Gemeinschaft, Wertschätzung, religiöse Erlebnisse – all das müsste doch in unseren Pfarrgemeinden, katholischen Gruppen und Familien ausreichend zu finden sein. Deshalb muss doch niemand zu einer „Sekte" gehen.

 

Nur ein Bedürfnis können und dürfen wir nicht erfüllen: die Sehnsucht nach sicheren und fertigen Antworten auf alle Lebensfragen. Gott gibt uns nicht auf alle Fragen fertige Antworten. Er lässt es zu, dass wir nicht alles wissen und verstehen. Ja, es macht unsere Menschenwürde aus, dass wir lernen und suchen, wachsen und reifen dürfen. Es gehört zum Menschsein, mit offenen Fragen leben zu müssen. Wer diesen gottgewollten Weg zur Reifung abkürzen will, verkürzt damit auch seine Menschenwürde. Das ist die Tragik vieler Sektenmitglieder. (Nebenbei bemerkt: Die Gefahr der fertigen Antworten tritt nicht nur in „Sekten", sondern auch in großen Religionen in Gestalt des „Fundamentalismus" auf.)

 

Nun, es ist nicht so, dass alle, die außerhalb der Kirche nach dem Sinn des Lebens suchen, zu einer Sekte gehen. Viele bleiben Mitglieder unserer Kirche, aber Sinn und Orientierung für ihr Leben suchen sie anderswo: in esoterischer Literatur, in Astrologie. Sie schwärmen von der Kraft der Edelsteine, von geheimnisvollen Strahlen, von Seelenwanderung und kosmischen Energien. Sie mischen altägyptische, asiatische, indianische, keltische und weiß Gott welche religiösen Ideen und machen sich daraus ihre eigene Religion.

 

Woher kommt diese Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen?

Ich erkläre mir das so: Der Fortschrittsglaube der letzten 200 Jahre ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts ins Wanken geraten. Naturwissenschaft, Technik und Medizin haben das erwartete Heil nicht gebracht. Manche ihrer Errungenschaften geben sogar Anlass zu neuer großer Sorge. Wir wissen heute sehr viel mehr als unsere Vorfahren über das Funktionieren des Kosmos, des menschlichen Körpers, der Bausteine des Lebens. Aber wissen wir besser, wie wir leben sollen? Tun wir uns im Vergleich mit früheren Generationen auch leichter beim Lieben, beim Aufbauen und Gestalten von Beziehungen? Tun wir uns leichter beim Sterben? Der Mensch 2000 erfährt deutlich seine Grenzen und Hinfälligkeit. Zugleich hat er einen fast unbändigen Hunger nach Glück, nach Leben, nach gesundem und ewigem Leben.

 

Warum führt die Suche nach geglücktem Leben so viele Menschen aus der Kirche hinaus und nicht in die Kirche hinein? Diese Frage wird uns als Kirche die nächsten Jahre und Jahrzehnte sehr intensiv beschäftigen müssen.

Haben wir in der Vergangenheit nicht zu kleinkariert von Gott gesprochen? So, als wäre er ein harmloser „Himmelsopa"? Vielleicht war das vielen zu primitiv, und sie schwärmen deshalb von den ewigen Energien des weiten Kosmos usw.

Und ist es uns gelungen zu zeigen, dass unser Glaube etwas mit dem Lebensglück zu tun hat? Immerhin – so sagen die Umfragen – erwarten sich zwei Drittel der Österreicher vom Glauben Lebenshilfe! Das bloße Wiederholen von Geboten „Du sollst nicht!", „Du darfst nicht", „Du musst!" macht noch keinen Menschen glücklich, stößt Fragende sogar eher ab. Ist uns Christen und Christinnen selbst immer klar, welchen Sinn die Gebote Gottes haben? Sicher will Gott uns mit seinen Geboten nicht knechten und uns das Leben schwer machen. Er will uns vielmehr Wege zum Lebensglück zeigen.

 

Kann man bei uns Christenmenschen das Glücklichsein lernen?

Wenn nicht, dürfen wir uns nicht wundern, wenn lebenshungrige Zeitgenossen irgendwelchen Gurus nachlaufen und in obskuren Büchern Anleitungen zum Glücklichsein suchen. Freilich, es gibt noch etwas, das Menschen zur Esoterik lockt: die Neugier, der Reiz des Neuen. Den Rosenkranz meint man schon zu kennen, aber ein paar Mantras zu beten, das ist exotisch und interessant. Eine Fronleichnamsprozession gilt als mittelalterlich, ein buddhistisches Ritual im Grazer Stadtpark als faszinierend fremd. Aber auch hier sind wir gefragt: Pflegen wir die spirituellen Schätze unseres Glaubens? Bieten wir sie so an, dass Suchende sie verstehen können?

 

Viele Sinn-Suchende werden vielleicht in einigen Jahren, wenn die Modereligionen den Reiz des Neuen verloren haben, wieder bei ihrer „alten" Religion anklopfen. Hoffentlich haben wir bis dahin gelernt, besser mit suchenden Menschen umzugehen.

„Wer sucht, der findet. Wer anklopft, dem wird geöffnet" (Lk 11,9-13)

 

Mitmenschen suchen auch außerhalb der Kirche. Und sie tun dies oft ehrlichen und aufrichtigen Herzens. Wie sollen wir uns ihnen gegenüber verhalten?

Sicher kann nicht jeder und jede von uns theologische Bücher lesen und Diskussionen mit Andersdenkenden bestreiten. Aber es gibt auch Dinge, zu denen wir alle aufgerufen sind. Ich möchte vier nennen:

 

Respekt. Jeder Mensch, der ehrlich seiner Überzeugung folgt, verdient unseren Respekt. Wir wollen allen, die aufrichtig nach der Wahrheit suchen, mit Respekt begegnen, auch wenn sie anderswo suchen, sei es in einer Sekte oder in der Esoterik.

Gebet. Wir sind in Gott mit allen verbunden, die nach Wahrheit suchen. Wir wollen sie in unser Beten hereinnehmen.

Besinnung auf eigenen Glauben. Wir wollen immer wieder den Schatz des eigenen Glaubens wahrnehmen. Wo gibt mir mein Glaube Halt? Warum bin ich gerne Christ oder Christin? Wenn ich das einmal weiß und dankbar festgestellt habe, wird mir auch der nächste Schritt nicht so schwerfallen:

Glauben teilen! Nicht geschliffene Rede, nicht kluge Taktik ist notwendig. Meine Worte dürfen sogar unbeholfen sein, aber sie müssen ehrlich sein. Es reicht, wenn ich in der Familie, am Arbeitsplatz, im Geschäft, wo immer die Rede auf den Glauben kommt, schlicht sagen kann: Das und das ist mir wichtig. Hier hat mir mein Glaube, das Gebet, meine Kirche geholfen. Das ist meine Erfahrung. Vielleicht hat mein Gegenüber andere, unschöne Erfahrungen mit der Kirche gemacht, aber meine guten Erfahrungen sind auch echt und verdienen es, ernst genommen zu werden.

 

„Wer sucht, der findet. Wer anklopft, dem wird geöffnet" (Lk 11,9-13)

 

Liebe Weggefährtinnen und Weggefährten! Wir sind auf dem Weg zum Osterfest. Am Karfreitag werden in allen katholischen Kirchen der Welt – auch in dieser Kirche – die „Großen Fürbitten" gesprochen. Sie sind ein Gebet für alle Menschen, die mit uns oder in anderen christlichen Kirchen, in anderen Religionen oder als Zweifelnde und Ungläubige auf der Suche nach der Wahrheit sind. Die „Großen Fürbitten" verbinden uns mit dem ersten Karfreitag vor fast 2000 Jahren. Jesus ist – so erzählt Markus – mit einem lauten Schrei auf den Lippen gestorben. Und in diesen Schrei des Gekreuzigten sind alle Schreie der Menschheit, vor und nach Christus, alle Bitten und Gebete, alle Qualen des Suchens und Fragens zusammengefasst.

 

Gottes Antwort auf diesen Schrei des Karfreitags ist Ostern: die Auferstehung Jesu Christi. Der Sinn der Auferstehung wird sehr schön in den alten Osterikonen der Ostkirche dargestellt. Diese Bilder zeigen, wie Christus nach dem Kreuzestod in die Unterwelt hinabsteigt, Adam und Eva an der Hand fasst und aus dem Gefängnis des Todes und der Hölle herauszieht. Adam und Eva repräsentieren hier die gesamte Menschheit. Nicht nur wir Christen und Christinnen, alle Menschen sollen vom Auferstandenen hinauf gezogen werden in das ewige Glück Gottes. Das ist die Hoffnung, aus der wir leben. Das ist die Hoffnung, in der wir einmal getrost sterben mögen.

 

"Wer sucht, der findet. Wer anklopft, dem wird geöffnet" (Lk 11,9-13) Amen.

 

 

Karl Veitschegger (1996)

 

 

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