Karl Veitschegger (2025)

 

Reliquienverehrung in der Geschichte:

Zwischen Glauben und Aberglauben

 

(Dieser Artikel erschein das erste Mal in DIE FURCHE vom 6.2.2025)

 


Die Knochen des Elischa

Er gehört zu den imposantesten und beliebtesten Gestalten der Glaubensgeschichte Israels: Elischa. Erstaunliche Wundertaten werden dem legendenumwobenen „Gottesmann“ aus dem 9. Jh. v. Chr. nachgesagt. Sogar über den Tod hinaus soll von seinen Gebeinen eine geheimnisvolle Kraft ausgegangen sein. Die Bibel erzählt im zweiten Buch der Könige: „Elischa starb und man begrub ihn. In jenem Jahr fielen moabitische Räuberscharen in das Land ein. Als man einmal einen Toten begrub und diese Scharen erblickte, warf man den Toten in das Grab Elischas und floh. Sobald aber der Tote die Gebeine Elischas berührte, wurde er wieder lebendig und richtete sich auf.“ Diese Überlieferung mag neben jüdischen Prophetengräbern, paganen Totenfeiern und antiken Heroenkulten auch die frühe Christenheit bald dazu inspiriert haben, den sterblichen Überresten — also den „reliquiae“ — ihrer Glaubenshelden, vor allem der Märtyrer und Märtyrerinnen, besondere Ehrfurcht entgegenzubringen.

 

Kostbarer als Schmuckstücke

So schreibt 156 n. Chr. die Christengemeinde von Smyrna einen Bericht über das Martyrium ihres Bischofs Polykarp, in dem es heißt: „Christus beten wir an, weil er der Sohn Gottes ist. Die Märtyrer aber lieben wir als Jünger und Nachahmer des Herrn wegen ihrer unvergleichlichen Hingabe an ihren König und Meister.“ Und dann wird erzählt: „Nachdem wir die sterblichen Überreste Polykarps zusammengesucht hatten, kostbarer als seltene Schmuckstücke und reiner als feines Gold, haben wir sie am üblichen Ort beigesetzt. Wenn wir uns an diesem Ort in Jubel und Freude zusammenfinden, sooft es uns möglich ist, wird der Herr uns gestatten, das Gedächtnis seines Martyriums zu feiern in Erinnerung an alle, die bereits diesen Kampf bestanden haben, und auch zur Übung und Vorbereitung all derer, denen er in der Zukunft noch bevorsteht.“  Vom Gebet am Ort der beigesetzten Reliquien erwartete sich die Gemeinde Ermutigung und Stärkung im Glauben.

 

Zur Ehre der Altäre erheben

Eine neue Entwicklung im abendländischen Reliquienkult leitete Bischof Ambrosius von Mailand (+497) ein, als er die Gebeine der Märtyrer Gervasius und Protasius aus ihren Gräbern holen ließ, um sie im Altarbereich einer eigens dafür erbauten Basilika neu beizusetzen. Der Brauch, Leichname und Skelette von Heiligen „zur Ehre der Altäre zu erheben“ verbreitete sich fortan rasch im Abendland. Gebete vor Reliquien stärkten offensichtlich den Glauben der Betenden und Wunder ließen nicht auf sich warten. Die Theologie erklärte, dass es zwischen den Heiligen im Himmel und ihren Leibern auf Erden eine bleibende Verbindung gibt, die am Ende der Welt in der allgemeinen Auferstehung zur Vollendung gelangt. Denn der Leib des Menschen ist laut Apostel Paulus ein Tempel des Heiligen Geistes; erst recht gilt das für die Heiligen. Wer ihre Leiber ehrt, so war man überzeugt, verbindet sich mit der Gnade Gottes, die durch sie in dieser Welt bleibend Hand und Fuß, aber auch Kopf und Herz bekommen hat.

Im 7. Jahrhundert entstand in Gallien der Brauch, Reliquien in kostbaren Schreinen über (!) dem Altar „auszustellen“. Diese Art, den Heiligen neues „An-sehen“ zu verleihen, setzte sich im Hochmittelalter weithin durch. Kostbare Reliquiare entstehen. Eine andere beliebte Weise, sich den Heiligen körperlich zu nähern, boten umschreitbare Heiligengräber in den Krypten von Kirchen.

 

Leichen zerstückeln

Die im christlichen Orient geübte Praxis, die sterblichen Überreste von Heiligen zu zerstückeln, um sie so zu vervielfachen, wurde von Papst Gregor dem Großen (+ 604) in einem Brief an Kaiserin Konstantina, die für ihre Palastkirche in Byzanz das Haupt des hl. Paulus begehrte, strikt abgelehnt: „In Rom und im ganzen Abendland würde es als eine ganz unerträgliche und frevelhafte Sache betrachtet werden, wenn jemand die Leiber der Heiligen antasten wollte.“ Er empfahl der Kaiserin als Ersatz den römischen Brauch der Berührungsreliquien: „Man legt nur ein Stückchen Tuch in eine Kapsel und stellt diese auf die hochheiligen Gräber; hernach wird sie weggenommen und in der zu weihenden Kirche mit gebührender Ehrfurcht eingeschlossen. Es geschehen dann dort die gleichen Wunder, als ob die Leiber der Heiligen selbst übersandt worden wären.“

Wie wir wissen, setzte sich der Papst mit seiner Ablehnung der Zerstückelung von Heiligenleibern nicht durch. Haupt, Zähne, Zunge, Herz, Arm, Bein, Zehen einer heiligen Person befinden sich heute oft weit verstreut an verschiedenen Kultorten. Ihre Gebeine wurden nicht selten bis zur Staubkorngröße zerlegt. Zur theologischen Rechtfertigung dieser Praxis lehnte man sich an die Eucharistielehre an: Wie Christus in jedem Partikel der konsekrierten Hostie gegenwärtig ist, kann man auch den Heiligen in jedem Teilchen ihres Körpers begegnen. „Ubi aliquid ibi totum est — wo ein Teil ist, ist das Ganze.“ (Victricius von Rouen).

 

Gottvertrauen und Wundersucht

Neben diesen begehrten Körperteilchen erfreuten sich aber auch die von Gregor I. empfohlenen Berührungsreliquien (Sekundärreliquien) immer größerer Beliebtheit: Gegenstände, die Heilige zu ihren Lebzeiten (angeblich) verwendet haben oder mit denen ihr Leichnam oder ihr Grab berührt worden ist.

Ein Gemisch von Glauben und Aberglauben, Gottvertrauen und Wundersucht durchzieht die Reliquienfrömmigkeit der Jahrhunderte. Irrtum und Betrug blieben nicht aus und kommerzielle Interessen taten das Ihre. Riesige Reliquiensammlungen wie die des Luther-Beschützers Kurfürst Friedrich des Weisen versprachen nicht nur spirituellen, sondern durch das florierende Wallfahrtswesen auch ökonomischen Gewinn. Reformation und Aufklärung übten scharfe Kritik am Reliquienkult, die von der katholischen Kirche auch teilweise rezipiert wurde und ein Bemühen um Authentizität einleitete. Aber sowohl das Trienter Konzil als auch das Zweite Vatikanum blieben bei einem grundsätzlichen Ja zur Reliquienverehrung. Säkulare Gemüter mögen damit fremdeln, aber der Wunsch nach „angreifbaren“ Glaubensinhalten bricht zumindest in gewissen religiösen Milieus immer wieder durch, wie neuerdings der Hype um die Herzreliquie des seligen Carlo Acutis (1991-2006) zeigt. Dass zum katholischen Glauben auch die Dimension des Sinnenhaften gehört, wird auch eine sehr kritische Theologie nicht bestreiten wollen, aber wie sie solche Phänomene klug und überzeugend in das Glaubensganze einordnet, bleibt wohl wie der Jahrtausende alte Reliquienkult selbst „heilige Knochenarbeit“.

 

Karl Veitschegger

 

 

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