Primat der Barmherzigkeit Referat bei der
steirischen Pfarrerwoche 2015 im Schloss Seggau Papst Franziskus selbst hat das Kirchenjahr
2015/16 weltweit unter das Generalthema Barmherzigkeit
gestellt und es zum „Außerordentlichen Heiligen Jahr“ erklärt. „Barmherzig wie der Vater“ ist das
Leitwort. In Dankbarkeit für das, was der Kirche vor 50 Jahren durch das
Zweite Vatikanum von Gott geschenkt worden ist, spricht er in der
Verkündigungsbulle Misericordiae
Vultus (MV) von einem „Jubiläum
der Barmherzigkeit“. 150mal findet sich in der Bulle das Wort
„barmherzig“/„Barmherzigkeit“. Ich biete hier keine
systematische Darlegung dieses Dokumentes, das jede/r selbst lesen soll,
sondern greife daraus in sieben Punkten einige Gedanken auf, von denen ich
glaube, dass sie uns pastorale Orientierung geben können. 1. Barmherzigkeit
– „das pulsierende Herz des Evangeliums“ Mit dem traditionellen Wort „Barmherzigkeit“
tun sich heute viele schwer. Man denkt zu rasch an Almosen und milde Gaben,
die herablassend gewährt werden. Aber das ist nicht die Barmherzigkeit, um
die es hier geht, sondern deren Karikatur. Unter Barmherzigkeit versteht die
Bibel und mit ihr Papst Franziskus etwas ganz Fundamentales: Sie
ist jene Liebe, die sich niemand verdienen kann, die aber jeder und jede von
uns braucht. Eine Liebe, die nicht berechnet und nicht auf Gegenleistung
aus ist. Eine Liebe, die aus der Mitte eines großzügigen Herzens kommt. Eine
Liebe, die dem erwiesen wird, der nichts zurückgeben kann. Eine Liebe, die
die Gerechtigkeit überbietet und auch dem, der sich verfehlt hat, ja vielleicht
sogar oftmals schwer verfehlt hat, nicht entzogen wird, sondern ihm eine Tür
der Hoffnung öffnet. Das meint Barmherzigkeit. Und darum sagt der Papst:
„Barmherzigkeit [ist] in der Heiligen Schrift das Schlüsselwort, um Gottes Handeln uns gegenüber zu
beschreiben.“ (MV 9) Die Barmherzigkeit Gottes ist nicht bloß eine
göttliche Eigenschaft unter anderen, nicht bloß eine Offenbarungswahrheit
neben anderen, vielleicht wichtigeren. Sie ist auch nicht etwas, das im
Zweifelsfall einer höheren Wahrheit weichen müsste. Nein, die Barmherzigkeit
Gottes – so der Papst wörtlich – ist „das pulsierende Herz des Evangeliums“ (MV 12) und die „Mitte der Offenbarung Jesu Christi“
(MV 25) Gleichsam die gesamte Offenbarung
zusammenfassend beginnt der Papst seine Bulle daher mit den Worten: „Jesus
Christus ist das Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters. Das Geheimnis des christlichen Glaubens
scheint in diesem Satz auf den Punkt gebracht zu sein. In Jesus von Nazareth
ist die Barmherzigkeit des Vaters lebendig und sichtbar geworden und hat
ihren Höhepunkt gefunden. Der Vater […] hat nie aufgehört, auf verschiedene
Weise und zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte seine göttliche Natur
mitzuteilen. Als aber die »Zeit erfüllt war« (Gal 4,4), sandte Er […]
seinen Sohn, […] um uns auf endgültige
Weise seine Liebe zu offenbaren. Wer Ihn sieht, sieht den Vater (vgl. Joh
14,9). Jesus von Nazaret ist es, der durch seine Worte und Werke und durch sein ganzes Dasein
die Barmherzigkeit Gottes offenbart.“ (MV 1) Und ein paar Zeilen später: „Barmherzigkeit – in diesem Wort offenbart
sich das Geheimnis der Allerheiligsten Dreifaltigkeit. Barmherzigkeit ist der letzte und endgültige Akt, mit dem
Gott uns entgegentritt.“ (MV 3) Barmherzigkeit
ist das Letzte
– im wahrsten Sinn des Wortes. Wichtigeres, Besseres, Größeres, Wahreres kann
Gott nicht geben. Was heißt das für uns? 2. Betrachtung der Barmherzigkeit Gottes mit Folgen Das erste, was der
Papst von uns im Heiligen 2015/16 will, sind nicht irgendwelche pastoralen
Aktivitäten. Ich erinnere mich noch gut an seine Worte, die er vor einem Jahr
beim Evangelii-Gaudium-Kongress im Vatikan an uns Teilnehmer/innen richtete:
„Non rincorriamo!
Nicht hetzen!“ Und er warnte davor, aus der Pastoral „eine krampfhafte Serie
von Initiativen“ zu machen: „Manchmal scheinen wir davon besessen zu sein,
unsere Aktivität zu multiplizieren, anstatt aufmerksam zu sein für die
Menschen und ihre Begegnung mit Gott.“ Darum ist das erste,
worum der Papst uns für das Heilige Jahr bittet, nicht, eine Aktion zu
setzen, sondern „dieses Geheimnis der
Barmherzigkeit […] stets neu zu
betrachten. Es ist Quelle der Freude, der Gelassenheit und des Friedens.
Es ist Bedingung unseres Heils.“ (MV 2) Wir Älteren müssten es eigentlich wissen. Wir
haben im Lauf unseres Lebens schon viel Barmherzigkeit gebraucht:
Barmherzigkeit von Gott, aber auch viel Barmherzigkeit von unseren
Mitmenschen, die uns bisher getragen haben - und ertragen haben. Aber auch
ihr Jüngeren wisst um dieses Geschenk der unverdienten Liebe. Das, meint der
Papst, sollten wir betrachten: Wer
wäre ich ohne die Barmherzigkeit, die mir immer wieder erwiesen worden ist
und mir immer wieder erwiesen wird? Wenn wir diese Erfahrung der Barmherzigkeit
in uns zulassen, wenn wir wissen, dass wir letztlich aus der Barmherzigkeit
leben, werden wir demütiger werden. Wir werden auch leiser werden, wenn es um
das Versagen, die Fehler und die Sünden anderer geht… Wir werden uns weniger
Sorgen machen, ob der andere dazu oder dazu wohl würdig genug ist… Mancher
Tratsch unter uns wird seine diskriminierende Kraft verlieren… Wir werden ein
Stück ehrlicher und verantwortungsbewusster miteinander umgehen. Wir werden
die falsche Dankbarkeit verlieren: „Gott, ich danke, dir, dass ich nicht so
bin wie dieser….“ (Lk 18,9-14) (Übrigens
ist auch nicht jeder, der sich en general mit
Zöllnern und Sündern solidarisiert, automatisch vor Selbstgerechtigkeit
gefeit. Er kann in seinem Innersten denken: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht
so bin wie diese Pharisäer!“ Und hinter mancher Solidaritätsbekundung können
sich eigene, nicht zugegebene Schwächen und Lebens-Ungereimtheiten
verstecken. Aber das wissen wir ja alle, wenn wir ehrlich mit uns sind.) „Um fähig zu sein, die Barmherzigkeit zu
leben“, schreibt der Papst, „müssen wir also zunächst auf das Wort Gottes hören. Das heißt, wir müssen den Wert der
Stille wiederentdecken, um das Wort, das an uns gerichtet ist, meditieren zu
können. Auf diese Weise ist es möglich, die Barmherzigkeit Gottes zu betrachten
und sie uns anzueignen und zum eigenen Lebensstil werden zu lassen.“ (MV
13) 3. Conversio pastoralis – Bekehrung der Seelsorge Die Erfahrung empfangener Barmherzigkeit hat
dann auch Folgen für unser pastorales Verhalten. „Wie sehr wünsche ich mir“,
schreibt der Papst, „dass die kommenden Jahre durchtränkt sein mögen von der
Barmherzigkeit und dass wir auf alle
Menschen zugehen und ihnen die Güte und Zärtlichkeit Gottes bringen! Alle,
Glaubende und Fernstehende, mögen das Salböl der Barmherzigkeit erfahren, als
Zeichen des Reiches Gottes, das schon unter uns gegenwärtig ist.“ (MV 5)
„Salböl“ ist hier nicht Ausdruck für salbungsvolles religiöses Pathos,
sondern meint das Öl des barmherzigen Samariters, das menschliche Wunden
lindern und heilen kann. Schon in seiner Programmschrift Evangelii
Gaudium spricht Papst Franziskus von der nötigen „conversio pastoralis“,
wörtlich von der „Bekehrung der Pastoral“. Seelsorge darf sich nicht länger
damit begnügen, von einer geschützten Position aus, „den Menschen“ wichtige
Sachen über Gott, die Welt und ein richtig zu führendes Leben zu sagen, und
dann, wenn die Adressaten diese Lehren und moralischen Forderungen nicht
annehmen, zu meinen, man müsse sie ihnen halt mit noch mehr Nachdruck sagen,
noch genauer erklären, noch attraktiver vermitteln. Und wenn sie dann noch
immer nicht hören wollen, sind sie entweder dumm oder böse. Eigentlich wissen
wir alle, dass Pastoral so nicht (mehr) klappt. Wenn wir aus Gewohnheit oder
Trägheit doch noch manchmal so ticken, müssen
wir uns bekehren, meint der Papst. Das bedeutet, wir müssen den Platz wechseln, die geschützte Position verlassen und uns
an die Seite verwundeter Menschen stellen: an die der geschiedenen Frau,
des arbeitslosen Jugendlichen, des alkoholkranken Mannes usw.; uns von Milieu
und Schicksal dieser Menschen berühren lassen („Geruch der Schafe“); zuhören,
weinen, verstehen wollen; ratlos sein, Zweifel aushalten, beten; Gott im
Leben dieser Menschen suchen. Und dann von
der Situation dieser Menschen aus mit ihnen in das Evangelium schauen:
Welcher Horizont tut sich auf? Welcher nächste Schritt ist möglich? Vielleicht gelingt dann nur ein kleiner Schritt. Aber, wie sagt der
Papst: „Ein kleiner Schritt inmitten großer menschlicher Begrenzungen kann
Gott wohlgefälliger sein als das äußerlich korrekte Leben dessen, der seine
Tage verbringt, ohne auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen.“ (EG 44) Die
Barmherzigkeit freut sich auch über kleine Schritte. (Vielleicht sagt der eine oder andere jetzt:
So würde ich ja gerne Seelsorge machen, aber dazu habe ich leider keine Zeit.
Ja, es stimmt, niemand von uns kann Tausende von Menschen individuell
begleiten. Gott sei Dank wollen und brauchen auch längst nicht alle diesen
Dienst gerade von uns. Aber das soll uns nicht hindern, unsere pastorale Grundeinstellung und Haltung immer wieder zu
überprüfen: Wo reden wir aus sicherer Distanz nur über die Probleme der Menschen? Und wo sind wir schon an der
Seite unserer Mitmenschen? Wir sollten auch nicht meinen, nur wir als Geweihte oder
kirchenamtlich Gesendete seien die Seelsorger/innen Gottes in dieser Welt.
Unzählige Väter, Mütter, Omas, Opas, Freunde, Freundinnen usw. sind gute
Seelsorger/innen und Gott ist durch sie den Menschen barmherzig nahe… Es ist
schon viel, wenn wir das sehen und anerkennen, sie nach Möglichkeit zu dieser
Seelsorge ermutigen und selbst die Barmherzigkeit Gottes leben, wo wir eben
können.) Es ist gut, wenn wir in der Seelsorge zuerst nach dieser Haltung des barmherzigen
Samariters trachten. Dann kommen freilich auch unweigerlich die anderen
Fragen: Woher bekomme ich ein Reittier, wie lang ist der Weg, wo ist die
Herberge, wie groß kann eine Pfarrverband sein, wie soll unser strukturelles
pastorales Netz aussehen usw.? Auch daran werden wir als katholische Kirche
in der Steiermark viel zu arbeiten haben. 4. Verweigern wir niemandem unseren Segen! Ich möchte in puncto Barmherzigkeit für
unsere Diözese auch einen konkreten Vorschlag
machen: Wenn ab jetzt Menschen zu uns kommen und uns um unseren Segen bitten,
in welcher irregulären Lebenssituation sie sich auch immer befinden mögen,
lassen wir sie nicht im Stich! Hören wir ihnen zu. Versuchen wir sie zu
verstehen. Vielleicht können wir ihre Situation nicht gutheißen, vielleicht
können wir ihnen dafür kein Sakrament und keine Liturgie der Kirche anbieten,
aber lassen wir sie nicht im Stich! Aus dem
Ostergeheimnis wissen wir: Jede Situation der Gebrochenheit ist von der
größeren Liebe Gottes umfangen. Selbst „wenn wir untreu sind, bleibt er
doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen.“ (2 Tim 2,13) Er ist
da! Verweigern wir niemandem unseren Segen! Werden wir kreativ, finden wir eine für
die konkrete Situation geeignete Form des Betens und Segnens! Wir im
Pastoralamt helfen gerne dabei mit, wenn unser Rat gewünscht wird. Papst Franziskus sagte am 15. 2. 2015 in
seiner Predigt vor den neuen Kardinälen: „Die Liebe ist kreativ,
wenn es darum geht, die richtige Sprache zu finden, um mit all denen
Verbindung aufzunehmen, die als unheilbar und darum unberührbar angesehen
werden.“ Und er spricht von „zwei Arten der Logik des Denkens und des
Glaubens“. Die eine ist geleitet von der „ Angst,
die Geretteten zu verlieren“, die andere vom „Wunsch, die Verlorenen zu
retten“. Auch heute – so der Papst – geschieht es manchmal, dass wir uns am
Kreuzungspunkt dieser beiden Arten der Logik befinden: Die „Logik der
Gesetzeslehrer“ will „die Gefahr bannen durch Entfernen der angesteckten
Person“. Dem gegenüber steht die „Logik Gottes, der mit seiner Barmherzigkeit
den Menschen umarmt und aufnimmt, ihn wieder eingliedert und so das Böse in
Gutes, die Verurteilung in Rettung und die Ausgrenzung in Verkündigung
verwandelt.“ In der Bulle schreibt der Papst: „Die Braut
Christi macht sich die Haltung des Sohnes Gottes zu Eigen und geht allen
entgegen und schließt keinen aus.“
(MV 12) Segnen heißt nicht unbedingt, alles gutheißen, aber es heißt: wir
schließen dich nicht aus, wir schicken dich nicht weg, wir lassen dich nicht
allein, wir begleiten dich und beten darum, dass du den Weg findest, den Gott
mit dir gehen will … 5. Primat der Barmherzigkeit „Die Versuchung, stets und allein die
Gerechtigkeit zu fordern, [hat] uns vergessen lassen, dass diese nur der
erste Schritt ist. Dieser Schritt ist zwar notwendig und unerlässlich, aber
die Kirche muss darüber hinausgehen um eines höheren und
bedeutungsvolleren Zieles willen.“ (MV 10). Gesetz und Gerechtigkeit
sind nicht unwichtig, überflüssig oder falsch, aber sie haben nicht das
letzte, alles entscheidende Wort. Darauf legt der Papst wert: Gott überbietet
Gesetz und Gerechtigkeit und vollendet sie in der Barmherzigkeit. Es gilt der
Primat der Barmherzigkeit. „Jesus betont, dass […] der Primat der Barmherzigkeit die
Lebensregel seiner Jünger ist, so wie er es selbst bezeugt hat, als er
mit den Sündern zu Tisch saß. […] Dass er
Gemeinschaft hat mit denen, die nach dem Gesetz Sünder waren, lässt
verstehen, wie weit Barmherzigkeit geht.“ (MV 20) - „Barmherzigkeit ist der letzte und endgültige Akt, mit dem
Gott uns entgegentritt.“ (MV 3). „In unserer Zeit, in der die Kirche sich der
Neuevangelisierung verschrieben hat, gilt es, das Thema der Barmherzigkeit mit
neuem Enthusiasmus und einer erneuerten Pastoral vorzutragen. Es ist
entscheidend für die Kirche und für die Glaubwürdigkeit ihrer Verkündigung,
dass sie in erster Person die Barmherzigkeit lebt und bezeugt! Ihre Sprache und ihre Gesten müssen die
Barmherzigkeit vermitteln und so in
die Herzen der Menschen eindringen und sie herausfordern, den Weg zurück
zum Vater einzuschlagen.“ (MV 12) 6. Sakrament der Versöhnung Großen Wert legt der Papst in seiner Bulle
auf die Erneuerung des Bußsakramentes. Schon in Evangelii Gaudium hat er
davon gesprochen, dass die Beichte keine „Folterkammer“ sein darf. (vgl. EG
44). Jetzt schreibt er: Die Beichtpriester
sollen „ein wahres Zeichen der
Barmherzigkeit Gottes“ sein: „Sie stellen keine aufdringlichen Fragen,
vielmehr unterbrechen sie – wie der Vater im Gleichnis – die vorbereitete
Rede des verlorenen Sohnes, denn sie verstehen es, im Herzen eines jeden
Beichtenden den Ruf um Hilfe und das Verlangen nach Vergebung zu lesen. Die
Beichtväter sind also berufen immer, überall, in jeder Situation und egal in
welchen Umständen, Zeichen des Primates
der Barmherzigkeit zu sein.“ (MV 17) Zur Sorge, dass ein Priester zu leichtfertig
die Lossprechung geben könnte, sagt der Papst am 11. Mai 2014 im Petersdom zu
Neupriestern: „Um der Liebe Christi willen: Werdet niemals müde, barmherzig
zu sein! Bitte! Seid ebenso fähig wie der Herr, zu vergeben […]! Habt viel
Barmherzigkeit! Und wenn ihr Skrupel bekommt, ob ihr nicht zu
vergebungsbereit seid, dann setzt euch vor den Tabernakel und sagt: ‚Herr,
vergib, falls ich zu viel vergeben habe. Aber du hast mir ja selbst das
schlechte Beispiel gegeben!’ Ich sage euch:
Wirklich, es schmerzt mich so sehr, wenn ich Menschen treffe, die nicht mehr
zur Beichte gehen, weil man sie schlecht behandelt und ausgeschimpft hat. Sie
haben gespürt, wie sich die Tore der Kirche vor ihnen schlossen! Bitte, macht
das nicht! Barmherzigkeit, Barmherzigkeit!“ Unzählige schlechte Erfahrungen von
Großvätern und Großmüttern, die noch zur Beichte gezwungen worden sind, haben
das große Sakrament der Barmherzigkeit in unseren Breiten faktisch ruiniert.
Es wird sich auch nicht von heute auf morgen erholen. Neue Zeiten werden neue
Formen des Bußsakramentes verlangen. Aber wir sollten schon jetzt das uns
Mögliche tun, eine „nichtmuffige“ und freundliche Form dieses Sakramentes
anzubieten. Es soll uns freilich nicht nur um die Beichte
allein gehen. Auch andere Formen des geistlichen Gesprächs – sie mögen die Beichte
vorbereiten oder ergänzen oder ganz unabhängig von einer sakramentalen
Beichte geschehen – haben große Bedeutung und können und sollen Suchenden von
erfahrenen und kompetenten Männern und Frauen angeboten werden. Wir haben
solche Menschen in unserer Diözese. Und die Öffentlichkeit soll um dieses
Angebot auch wissen. Bruno Almer, unsere Hauptansprechperson für
das Heilige Jahr im Pastoralamt, wird nach meinem Referat einige konkrete
Ideen dazu vorstellen, die wir im Heiligen Jahr in unserer Diözese umsetzen
können. 7. Barmherzigkeit leben – „an die Peripherie gehen“ „Wo […] die Kirche gegenwärtig ist, dort muss
auch die Barmherzigkeit des Vaters sichtbar werden. In unseren Pfarreien,
Gemeinschaften, Vereinigungen und Bewegungen, d.h. überall wo Christen sind,
muss ein jeder Oasen der
Barmherzigkeit vorfinden können.“ (MV 12) Ich bin dankbar, dass es in unserer Diözese
so viele Oasen der Barmherzigkeit gibt und auch immer neue entstehen, gerade
auch in den Pfarren. Liebe ist immer kreativ und fruchtbar. Die Pfarren
brauchen dazu auch keine Vorschriften von der so genannten „Zentrale“.
Vielleicht Anregung und Unterstützung. Ich bin dankbar für das, was durch die
Zusammenarbeit engagierter Menschen unserer Pfarren, der Caritas, des
Ordinariates und der Zivilgesellschaft für Mitmenschen getan wird, die in
unserem Land Asyl suchen. [ Erich Hohl!] Aber das ist längst nicht alles, was
an Gutem geschieht. Es ist jedenfalls
schön, dass Barmherzigkeit nicht im innerkirchlichen Raum bleibt, sondern in
der Gesellschaft wirksam wird. Caritas-Direktor Küberl
wird uns mit seinen Mitarbeitern und Miatarbeiterinnen
heute Nachmittag noch einiges dazu zu sagen haben und Prof. Siebenrock wird
am Mittwoch und Donnerstag mit uns gründliche Überlegungen zum Thema „Der gesellschaftliche
Auftrag der Kirche“ anstellen. Ich bin schon gespannt darauf. Papst Franziskus fordert uns immer wieder
auf, „an die Peripherie zu gehen“.
In einem Interview mit einer Straßenzeitung in Buenos Aires (15.3.2015)
erklärt er, was er darunter versteht: „Wenn ich von Peripherie spreche,
spreche ich von Grenzen. Normalerweise
bewegen wir uns in Räumen, die wir auf gewisse Weise kontrollieren. Das
ist das Zentrum. Aber wenn wir uns vom Zentrum weg bewegen,
entdecken wir mehr Dinge. Und wenn wir dann von jenen Dingen, die wir
entdeckt haben, wieder auf das Zentrum schauen, von unseren neuen Positionen,
von dieser Peripherie, sehen wir, dass die Wirklichkeit anders ist. […] Die Wirklichkeit sieht man besser von der
Peripherie als vom Zentrum. Auch die Wirklichkeit eines Menschen, [die
Wirklichkeit] der existenziellen Peripherien und sogar die Wirklichkeit des
Denkens. Du kannst ein sehr scharfes Denken haben, aber wenn du dann jemandem
gegenüberstehst, der außerhalb dieses Denkens ist und du irgendwie die
Berechtigung deines eigenen Denkens suchen musst, und zu diskutieren
beginnst, dann wächst du an der Peripherie des Denkens des anderen.“ Dieser Wechsel
vom Zentrum der eigenen gewohnten Welt zur Peripherie, hat viel mit der „conversio pastoralis“, mit der
„Bekehrung der Seelsorge“ zu tun, von der ich ja schon gesprochen habe, und
ist wahrscheinlich überhaupt die Grundbewegung echter Nächstenliebe. So können
Ferne wirklich zu Nächsten werden. Barmherzigkeit ist nichts Billiges und
Blutleeres, sondern Gottes Barmherzigkeit stiftet uns an, „barmherzig wie der Vater“ zu sein
und in unserer Welt zu handeln. Am
Ende meiner Ausführungen will ich noch einmal den Papst zu Wort kommen lassen
mit einer längeren Passage aus seiner Bulle: „In diesem Heiligen Jahr können wir die
Erfahrung machen, wie es ist, wenn wir unsere Herzen öffnen für alle, die an den unterschiedlichsten existenziellen
Peripherien leben […] Wie viele prekäre Situationen und wie viel Leid
gibt es in unserer Welt! Wie viele Wunden sind in das Fleisch so vieler
Menschen gerissen, die keine Stimme mehr haben, weil ihr Schrei, aufgrund der
Teilnahmslosigkeit der reichen Völker, schwach geworden oder gar ganz
verstummt ist. In diesem Jubiläum ist die Kirche noch mehr aufgerufen, diese
Wunden zu behandeln, sie mit dem Öl des Trostes zu lindern, sie mit der
Barmherzigkeit zu verbinden und sie mit der geschuldeten Solidarität und
Achtung zu heilen. Verfallen wir nicht in die Gleichgültigkeit, die
erniedrigt, in die Gewohnheit, die das Gemüt betäubt und die verhindert,
etwas Neues zu entdecken, in den Zynismus, der zerstört. Öffnen wir unsere
Augen, um das Elend dieser Welt zu sehen, die Wunden so vieler Brüder und
Schwestern, die ihrer Würde beraubt sind. Fühlen wir uns herausgefordert,
ihren Hilfeschrei zu hören. Unsere Hände mögen ihre Hände erfassen und sie an
uns heranziehen, damit sie die Wärme unserer Gegenwart, unserer Freundschaft
und unserer Brüderlichkeit verspüren. Möge ihr Schrei zu dem unsrigen werden
und mögen wir gemeinsam die Barriere der Gleichgültigkeit abtragen […]. Es ist mein aufrichtiger Wunsch, dass die
Christen während des Jubiläums über die leiblichen und geistigen Werke der
Barmherzigkeit nachdenken. Das wird eine Form sein, unser Gewissen […]
wachzurütteln und immer mehr in die Herzmitte
des Evangeliums vorzustoßen, in dem die
Armen die Bevorzugten der göttlichen Barmherzigkeit sind. Die
Verkündigung Jesu nennt uns diese Werke der Barmherzigkeit, damit wir prüfen
können, ob wir als seine Jünger leben oder eben nicht. […] In einem jeden
dieser »Geringsten« ist Christus gegenwärtig. Sein Fleisch wird erneut
sichtbar in jedem gemarterten, verwundeten, gepeitschten, unterernährten, zur
Flucht gezwungenen Leib …, damit wir Ihn erkennen, Ihn berühren, Ihm sorgsam
beistehen. Vergessen wir nicht die Worte des heiligen Johannes vom Kreuz: „Am Abend unseres Lebens werden wir nach
der Liebe gerichtet werden«.“ (MV 15) Zurück zur Startseite von Karl Veitschegger
Zurück zum Menü „Artikel, Referate, Skizzen
..." Karl Veitschegger © 2015 |