Karl Veitschegger 2024

 

Eine himmlische Familie

 

Dieser Beitrag zur katholischen Heiligenverehrung erschien leicht verändert und gekürzt auch in DIE FURCHE (43, 24.Oktober 2024)


 

„Die Katholischen beten die Heiligen an!“ – Ein Satz aus meiner Volksschulzeit, den ich noch immer im Ohr habe, wenn ich etwas über Heiligenverehrung lese oder schreibe. Er weckt in mir, dem katholisch Sozialisierten, einen apologetischen Reflex. Mag sein, dass manches, wie mir Freunde sagen, äußerlich an „heidnische Vielgötterei“ erinnert, wenn in katholischen Kirchen Bilder und Statuen von Heiligen angebracht, geschmückt und verehrt werden, aber „von innen“ fühlt sich das für einen katholischen Christen wie mich ganz anders an. Heilige sind für mich keine Götter, sondern so etwas wie meine „Verwandten“. Der Apostel Paulus nannte noch alle Glaubensgeschwister „Heilige“. Später fand man diese Selbstbezeichnung wohl zu elitär und zu moralisch anspruchsvoll und betitelte nur noch solche Personen, als „heilig“, die sich durch ihr Leben und Sterben als vorbildliche Christenmenschen bewährt hatten, allen voran die Märtyrer und Märtyrerinnen, bald auch die Mutter Jesu und andere. Ja, sie wurden als Vorbilder gesehen, im Licht Gottes lebend, aber sie blieben Menschen, Brüder und Schwestern im Himmel. Als katholisches Kind der 50-er und 60-er Jahre lernte ich schon früh, ohne die lateinischen Fachtermini dafür zu kennen, den Unterschied zwischen Anbetung (adoratio) und Verehrung (veneratio). Anbetung gebührt demnach nur Gott allein! Denn jemanden anbeten heißt, ihn als Gott anerkennen! Da war meine Großmutter als religiöse Erzieherin der Familie unerbittlich klar. Aber Ehrfurcht und Verehrung durften, ja sollten wir auch Menschen entgegenbringen: Eltern, Familienmitgliedern, befreundeten Bekannten usw. Wir hielten deren Fotos in Ehren, freuten uns auf Begegnungen mit ihnen, baten sie je nach Profession und Begabung um Hilfe, wenn es angebracht schien, und ersuchten sie, wenn sie gläubig waren, auch um ihr Gebet, also um ihre „Fürbitte“ in unseren Anliegen. Kurz: Sie halfen uns, Gott und dem Leben zu trauen. Auch Verwandte und Bekannte, die schon verstorben waren, zählten zum Kreis der so Verehrten. Die Brücke zur katholischen Heiligenverehrung war damit geschlagen.

 

Heilige „von nebenan“

 

Auch heute als Erwachsener weiß ich mich von Menschen geistig getragen, die ich besonders schätze und ehre. Darunter sind manche, die ihr Leben schon vollendet haben und die man traditionell „Heilige" nennt. Einige stehen offiziell im Kalender, andere sind das, was Papst Franziskus „die Heiligen von nebenan“ nennt. Gerade diesen ist der Feiertag Allerheiligen gewidmet. „Gott sucht Mit-liebende“ (Duns Scotus) und sie lassen sich finden. Immer wieder. Das zählt.

Denn „heilig“ wird man nicht erst durch päpstliche Selig- und Heiligsprechung. Dieses zweistufige Prozedere aus dem Mittelalter, oft novelliert, dient lediglich der kirchenoffiziellen Anerkennung einer „heiligmäßigen Person“ und regelt deren liturgische Verehrung: Seliggesprochene dürfen regional, Heiliggesprochene weltweit verehrt werden. In beiden Stufen geht der feierlichen Entscheidung eine meist langjährige Prüfung der Biografie durch kirchliche Ämter voraus. Im Regelfall muss – gleichsam als „Wink von oben“ – auch ein auf die Fürbitte der verehrten Person hin geschehenes „Wunder“, also eine medizinisch unerklärbare Heilung, vorgewiesen werden. Dann erst erfolgt die Aufnahme ins „Martyrologium Romanum“, ins Verzeichnis der katholischen Seligen und Heiligen, das mittlerweile auf rund 9.000 Namen angewachsen ist.

 

Zu den Heiligen, ob kanonisiert oder nicht, zählen freilich nicht nur tadellose, psychisch ausgeglichene, in jeder Hinsicht reife Menschen. Nein, ich sehe auch „schräge Typen“ unter ihnen, „ausgeprägte“ Kinder ihrer Zeit. Nicht alles an ihnen muss ich als mittelmäßiger Christ von heute verstehen oder gutheißen. Aber in vielen leuchtet mir doch heller als sonst wo das Licht der Bergpredigt Jesu entgegen. Das macht dankbar.

 

Mit den Heiligen kommunizieren?

 

„Nun gut", sagen mir evangelische Feunde und Freundinnen, „Heilige mögen ehrenwerte Vorbilder sein. Aber sie um Hilfe anrufen?“ Katholischer Glaube macht dazu Mut: Der Tod nimmt uns zwar vieles, aber „die Liebe hört niemals auf“ (1 Kor 13,8). Die uns in die Ewigkeit Vorausgegangenen bleiben auch nach ihrem Tod Liebende, die weiterhin mit ihren Charismen für ihre Lieben auf Erden da sein können – nicht mehr körperlich, auch nicht „auf eigene Faust“, aber von Gottes Kraft bewegt. Zur Gemeinschaft der Kirche gehören nicht nur die Gläubigen auf Erden, sondern – wie der Hebräerbrief es etwas ungewohnt ausdrückt – auch „die Geister der schon vollendeten Gerechten" (Hebr 12,23). Und da eine Gemeinschaft ohne Kommunikation keine Gemeinschaft wäre, muss zwischen uns und diesen „Gerechten" im Himmel auch Kommunikation möglich sein. Es liegt doch nahe, dass man an einen Menschen, den man zu Lebzeiten immer wieder um sein Gebet ersucht hat, auch nach dessen Tod in Liebe denkt und dass aus dem Gedanken eine Bitte wird: „Wenn du bei Gott bist, bete für mich, wie du es schon hier auf Erden getan hast!" Jedenfalls bezeugen alte mehrsprachige Graffiti in Roms Katakomben (San Sebastiano, um 250 n. Chr.), dass Gläubige aus Ost und West schon sehr früh mit großer Selbstverständlichkeit die Apostel und Märtyrer um ihre Fürbitte anrufen: „Petrus und Paulus, denkt an Sozomenos!“, „Petrus und Paulus, betet für Viktor!“ Und sie sind gewiss, dass die Angerufenen ihnen nahe sind, sie hören und verstehen können, weil Gottes Geist dies möglich macht.

 

Konkurrenz für Christus?

 

Protestantische Kritik mag hier einwenden: „Wird da die zentrale Stellung Christi nicht geschmälert? Solus Christus! – Er ist der einzige Mittler zu Gott!“ Katholischer Glaube sieht in den Heiligen keine Konkurrenz zu Christus, sondern erklärt: Alles, was Menschen in Liebe füreinander tun und erbitten, geschieht immer mit Christus, in Christus und durch Christus. Niemals neben oder außer ihm! Er ist der „Weinstock“ und wir, die Gläubigen auf Erden und die Heiligen im Himmel, sind seine „Reben“ (Joh 15,5). Wir bilden ein fruchtbares Miteinander und Füreinander in Christus. Die Heiligen gehören zur Christuswirklichkeit. Sie haben ja „Christus gelebt“ — auch in Situationen, die der historische Jesus nicht vorleben konnte. Er war keine Frau, nicht verheiratet, hatte keine Kinder, war nicht krebskrank, hatte keine Altersbeschwerden, war keine Chinesin und kein Afrikaner. Unter den Heiligen, die sein Evangelium gelebt haben, finden wir das alles. In ihnen lebte und lebt ER. Durch sie wirkt er.

Die katholische Kirche verpflichtet ihre Gläubigen nicht zur Heiligenverehrung. Sie lässt – man denke an die Reliquienverehrung – auch Kurioses zu, dem ich nicht folgen kann und auch nicht muss. Papst Gregor der Große (+604) verurteilte z. B. noch vehement den byzantinischen Brauch, Leichen und Skelette zum Zweck der Reliquiengewinnung zu zerteilen (Brief an Kaiserin Konstantina), aber er konnte ihn letztlich nicht verhindern. Vereinzelt leben sogar heute solche Praktiken neu auf. Es gab im Lauf der Geschichte des Heiligenkultes bedenkliche Auswüchse und handfeste Missbräuche. Aber „abusus non tollit usum״. Die katholische Kirche hat trotz harter Kritik der Reformatoren, die in vielem heilsam war und bleibt, 1563 auf dem Konzil von Trient entschieden, es sei „gut und nützlich", die Heiligen „anzurufen, um von Gott Wohltaten zu erlangen durch seinen Sohn Jesus Christus, unsern Herrn, der allein unser Erlöser und Heiland ist." Ich bin trotz katholischer Sozialisierung nicht das geworden, was man früher einen großen „Heiligenverehrer“ nannte, aber ich bin dankbar für viele Freundinnen und Freunde im Himmel.

 

Karl Veitschegger

 

Eine himmlische Familie. Der modifizierte Beitrag in DIE FURCHE

Heiligenkult und Reliquienkult. Kronenzeitung 1.11.2004

 

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